Gast-Beitrag Isabel Funke: Trauer nach einem Verlust

11.10.2022

Heute findet ihr auf meinem Blog einen Gastbeitrag von einer der stärksten Personen, die ich kenne. Es ist ein Beitrag meiner lieben Freundin Isabel, welche sich ihr halbes Leben lang mit dem langsamen Verlust ihres Vaters auseinandersetzen musste. Trauer und Schmerz prägten ihren Alltag. Vor allem die Tabuisierung der Thematik, aber auch die fehlende Empathie innerhalb unserer Gesellschaft machte es ihr schwer, einen Raum für diese Trauer und den Schmerz zu öffnen. So war Isabel lange Zeit ganz auf sich gestellt mit ihren Gefühlen, wobei sie nach Außen hin immer den Schein des "fröhlichen jungen Mädchens" wahren wollte.

Anhängend hat Isabel für diesen Blog einen Gastbeitrag zur Trauer nach dem Verlust einer geliebten Person verfasst.



Du bist tot.

Eine Tatsache, die ich mir immer wieder vorsagen musste, um sie in meinem Bewusstsein zu verankern. Wie viele Jahre hatte ich über die Möglichkeit deines Verlustes nachgedacht. Darüber wie es wohl passieren würde und wann, ob es schnell gehen würde und ob ich noch die Möglichkeit hätte, mich von dir zu verabschieden.

Vor und während jeder Reise begleitete mich der Gedanke, was wäre, wenn...? Was wäre, wenn es gerade jetzt passierte?

Letztlich ist alles anders gekommen.

Dein letzter Weg war ein langer. Du hast dich festgehalten am Leben, nicht losgelassen. Du hast so lange gekämpft und dein Körper war so stark. Trotz allem. Ich hatte viel Zeit, mich von dir zu verabschieden. Ich konnte dir nochmal vorlesen. Was ich schon so lange machen wollte - und es immer wieder verwarf. Ich konnte dir sagen, wie sehr ich dich vermisse und dass ich dir verziehen habe.

Dass es schwer war, mit einem Vater wie dir. Dass ich es nicht leicht hatte. Niemand von uns.

Dass du vieles, was ich mir gewünscht hätte, nicht sein konntest. Das erste Mal seit vielen Jahren habe ich dich Papa genannt, liebevoll und tränenüberströmt. Der Schmerz über deinen Zustand hat mir so oft die Brust zugeschnürt, dass ich nicht atmen konnte. Es fühlte sich an wie ein Stich in meine Körpermitte. Diese Schwere in mir verschwand nie ganz.

Für dich habe ich gelächelt. Wollte der Sonnenschein sein, für den du mich hieltest. Ich wollte nicht, dass du siehst, wie schlecht es mir damit ging, dich immer schwächer werden zu sehen. Für dich wollte ich stark sein. So wie du nie wahrhaben wolltest, dass du in einem Hamsterrad lebtest. Schon lange bevor die Krankheit ausbrach, hast du dir verboten zu leben. Hast dich und deinen Körper nicht gut behandelt, warst nie krank und wolltest immer funktionieren. Irgendjemand musste schließlich arbeiten und die Familie ernähren.

Bis gar nichts mehr ging.

Als es dir immer schlechter ging, bin ich irgendwann immer seltener gekommen, bin an deinem Zimmer vorbeigeschlichen und habe gehofft, du würdest es nicht merken. Unser letztes richtiges Gespräch ist schon sehr lange her. So lange - ich kann mich nicht mal erinnern, wann es war.

So wie all deine letzten Male, die sich nicht ankündigten und dann im Alltagstrubel untergingen. Es fiel mir nie leicht, über dich zu sprechen. Jeder Gedanke an dich war verbunden mit so viel Traurigkeit und Schmerz. Das schienen nur die wenigsten aushalten zu können. So fühlte ich mich mit meinen Gefühlen um deinen langsamen Verlust über die Jahre sehr einsam und nur selten gesehen.

Zu Beginn deiner Erkrankung, als du noch arbeitetest, als die Vorstellung von Parkinson im Endstadium noch in weiter Ferne lag, wurde ich häufiger nach deinem Gesundheitszustand gefragt. Im Smalltalk-Ton, mit besorgt mitleidigem Blick. Diese Krankheit ist nicht heilbar und alle Symptome wie Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen oder Zittern, verschlechtern sich mit der Zeit.

Wie trauert man um einen Menschen, der noch lebt?

Als Angehörige konnte ich dir bei deinem Zerfall zuschauen. Jahr für Jahr sehen, wie dein Radius immer kleiner wurde. Wie du nicht mehr Fahrrad fahren konntest, immer unsicherer gingst, die Treppe nicht mehr runterkamst. Bis schließlich das Bett dein Lebensraum wurde, du dich gar nicht mehr bewegen konntest. Ich habe alle Stadien gesehen und es tat so weh, zuzuschauen. Nichts tun zu können.

Daher gab es keinen guten Ratschlag, der es für mich oder dich hätte besser machen können. Ratschläge geben, das ist das, was Menschen gerne machen, wenn sie mit einem Thema überfordert sind. Sie wollen helfen, Lösungen finden. Aber die gibt es bei einer unheilbaren Krankheit nun mal nicht.

Um die eigene Hilflosigkeit über die schlechte Prognose deiner Erkrankung zu überbrücken, wurden mir regelmäßig Geschichten erzählt von Bekannten, Freundinnen, entfernten Verwandten oder Kundinnen, deren Verwandten zweiten Grades vom Hörensagen her auch eine schwere Krankheit durchmachten oder im Krankenhaus lagen. Menschen, die ich gar nicht kannte. Aber so ist das, wenn es um die "schwierigen" Gefühle wie Trauer und Schmerz geht. Man spricht lieber nicht darüber und wenn dann nur aus der Retrospektive.

Als absehbar war, dass es dir immer schlechter ging, fragte mit der Zeit und den Jahren niemand mehr nach dir. Zu wenig Smalltalk-fähig waren meine Antworten und zu greifbar das Eingeständnis der eigenen Vergänglichkeit für die anderen. Deine Krankheit wurde etwas, worüber Menschen mit mir nicht mehr sprachen.

Ich fühlte mich einsam mit einem Vater wie dir.

Ich hätte mir oft mehr Empathie gewünscht und ein Gegenüber, das sagt: Mensch, das ist schlimm. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, einen schwerkranken Vater zu haben. Ich höre dir zu. Magst du mir erzählen, wie es dir damit geht?

Ohne gutgemeinte Ratschläge, ohne da Bedürfnis zu haben, mir Krankengeschichten von fremden Menschen zu erzählen.

Ich hätte mich gesehen gefühlt in meiner Trauer und nicht so allein.

Bald ist dein Körper seit einem Jahr tot.

Ich werde an dich denken. Ich werde dankbar sein, für den schönen Abschied und die Zeit, die wir als Familie hatten. Für die vielen Stunden, die wir zusammen an deinem Sterbebett verbrachten. Dein Tod hat uns zusammengeschweißt.

Dein Verlust hat mich gelehrt, dass Trauer nur eine andere Form der Liebe ist.

 "Where there is deep grief, there was great love".

Endlich weiß ich, dass du nicht mehr leidest - du bist frei.

Isabel Funke, Oktober 2022



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