Long story short

27.07.2024

Liebe Leserinnen,

mein Blog soll anderen Betroffenen Mut machen und Hoffnung geben. Das ist der Grund, warum ich nun so lange nichts mehr von mir habe hören lassen. Denn ich war nicht in der Lage mutig zu sein oder Hoffnung zu spenden. Im Gegenteil, ich habe die letzten Monate sehr mit mir gekämpft und tue es noch.

Ich möchte aber dennoch versuchen mutig voranzugehen, in dem ich öffentlich von meiner Erkrankung erzähle und so (hoffentlich) anderen das Gefühl zu geben nicht alleine zu sein.

Ich will ehrlich sein: Ich habe Mitte Januar mein Medikament abgesetzt (ausgeschlichen) und meine Angstsymptomatik hat sich in nur wenigen Wochen später massiv verschlechtert. Stur wie ich bin, habe ich diesen Zustand versucht selbstständig aufzulösen. Mit viel Arbeit an mir selbst – getrieben von der Überzeugung "Wenn ich mich nur genug anstrenge, dann bekomme ich das auch alleine wieder hin." – habe ich mich noch drei Monate selbst gezwungen weiter zu funktionieren. Panikattacken Tag und Nacht, tägliches Erbrechen, Migräne bis zum Umfallen… Ich wollte dieses Medikament auf Biegen und Brechen loshaben.

Tja,.. was soll ich sagen. Der Plan ging (oh Wunder) nicht auf. Die Angst – und ich sollte es ja eigentlich besser wissen – mag es nicht, wenn man versucht sie weghaben zu wollen.

Als ich Mitte/Ende April beschloss, mich nun doch mal für 1-2 Wochen (SO DER PLAN) auf der Arbeit krank zu melden. Und da hat es mich komplett zerbröselt. Ich hatte in den drei Monaten, in denen ich weiterfunktionierte, alle Kraftreserven aus mir rausgepresst, die noch irgendwie verfügbar waren.

Was dann kam, das wünsche ich niemandem: Lebensmüdigkeit, keine Freude mehr empfinden können, Apathie, Emotionslosigkeit, Heulkrämpfe, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme. Ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Arbeitgeber, dem Partner, der Familie. Und immer wieder Panik, Panik, Panik.

Ich war in meinem Leben noch niemals so tief unten, dass mich eigentlich nur die Verpflichtung gegenüber meinen Lieben am Leben gehalten hat.

Long story short: Ich bin aktuell in einer Tagesklinik für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Klinik geht täglich von 8 Uhr bis 16 Uhr. Danach fahre ich wieder nach Hause und schlafe auch zuhause. Am Wochenende bin ich ebenfalls zuhause.

Wir sind in eine Gruppe von 8 Personen eingeteilt, die gemeinsam den Tag verbringt und sich gegenseitig stützt. Es tut so gut zu erfahren, dass es auch andere Menschen mit ähnlichen Themen gibt. Viele von uns haben unterschiedliche Symptome, aber ähnliche Grundmuster: Wir kennen unsere Grenzen nicht, sagen ungern Nein, wollen es allen (anderen) recht machen oder in der Arbeit perfekt machen. Wir sorgen nicht für uns selbst, weil wir es nicht gelernt haben. Wir fragen uns, ob wir überhaupt das Recht haben in der Klinik zu sein oder krankgeschrieben zu sein. Wir fragen uns: "Bin ich überhaupt krank genug? Anderen geht es doch viel schlechter."

In der Tat lerne ich täglich Menschen kennen, die schlimme Dinge erlebt haben. Aufwachsen in Pflegefamilien, Missbrauch, Suizid eines Elternteils, Trennung, ... Und jeder entwickelte unterschiedliche Störungen: Bindungsangst, Essstörung, Selbstverletzung, hungern, Gewichtszunahme, Angst, Depression, …

Da frage ich mich schon des Öfteren, welches Recht ich habe dort zu sein, wo ich doch eine wundervolle, stabile und harmonische Partnerschaft habe, ein Zuhause und eine Familie, die mich unterstützt und liebhat. Nicht zu vergessen: Mein großer Traum – Haustiere – ist vor drei Jahren in Erfüllung gegangen und ich liebe diese Schlawiner sehr.

Es gibt in der Klinik kein Verurteilen oder keine seltsamen Blicke, wenn man in der Morgenrunde sagt, dass man gestern Abend aus dem Nichts drei Stunden geweint hat. Oder die ganze Nacht Panik hatte.

Was mir besonders gut gefällt ist die Gruppentherapie und allgemein die wechselseitige Unterstützung durch die Gruppe – hier merke ich einfach, dass ich nicht allein bin mit meinen Themen. 

Außerdem noch Psychoedukation. In der letzten Sitzung ging es um Selbstwert, der sich aus dem Selbstbild und Selbstakzeptanz zusammensetzt. Das ist spannend, denn wir lernen, an welchen Stellen man selbst eingreifen und so Veränderung herbeiführen kann. Am liebsten mag ich Ergotherapie. Das ist freies künstlerisches Arbeiten mit unterschiedlichsten Materialien. Gerade arbeite ich an einem Projekt, das sich die Ergotherapeutinnen für mich überlegt haben: Ich darf eine Schale töpfern, diese anmalen und glasieren. Im Nachhinein soll ich sie kaputt machen und wieder zusammenflicken. Kintsugi, die japanische Reparaturmethode für Keramik.

Die Ergotherapie spiegelt uns unsere Themen. In meinem Fall: Abwertung meiner eigenen Person aufgrund der Angsterkrankung; alles, was ich tue, ist nicht gut/schön genug; ich bin zu langsam/nicht effizient genug/ich leiste zu wenig…

Und vor allem: Ich bin weniger wert als andere. Weil ich diese Erkrankung habe und selbst schuld bin an diesem Schlamassel.

Ich habe noch immer ein unglaublich schlechtes Gewissen gegenüber meinem Arbeitgeber, da ich nun schon so lange ausfalle und unklar ist, wann ich wieder im Einsatz sein kann. Ein Psychotherapeut hat mir diese Woche deshalb diesen Satz gesagt:

Was ist wichtiger? Ihr Leben oder die Arbeit?

Da war ich dann erst einmal still.

Es ist gerade nicht einfach. Gerade in dieser Woche haben sich meine Themen gezeigt. Und zwar volle Breitseite. Einerseits bin ich froh, dass ich nun professionell betreut und begleitet werde – andererseits habe ich Sorge vor einem erneuten "Absturz" meinerseits. Die Angst war diese Woche wieder verstärkt am Start.

Ich halte euch auf dem Laufenden.

Eure Jacqueline

PS: Ich freue mich immer sehr über Rückmeldungen auf meinen Blogbeitrag. Es ist nicht so einfach sich so zu zeigen.

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